Stressfaktoren

Die Dominante als Arbeitsprinzip der Nervenzentren

Aus dem Physiologischen Laboratorium der Petrograder Universität; eingegangen am 12. Februar
A.A. UCHTOMSKIJ
I.
Im geistigen und faktischen Erbe, das uns N.E. Vvedenskij hinterlassen hat, gibt es eine Schlussfolgerung, die aus der Gesamtheit der Arbeiten des Verstorbenen über reizbare Elemente folgt, die er aber aus irgendwelchen Gründen nicht ziehen wollte, nämlich, dass das normale Funktionieren eines Organs (z.B. des Nervenzentrums) im Organismus keine vorherbestimmte, für immer unveränderliche Eigenschaft des betreffenden Organs ist, sondern eine Funktion seines Zustandes.

Es war eine große Befreiung für das Denken, als die Ahnung aufblitzte, dass Metalle und Metalloide nicht ein für allemal qualitativ getrennte Dinge sind, sondern ein Stoff den metallischen und metalloiden Zustand durchlaufen kann in Abhängigkeit von der Größe der Atomgewichte. Eine ganz ebenso große Befreiung und zugleich eine Erweiterung der Aufgaben für das Denken war die Auffassung, dass gasförmige, flüssige und feste Eigenschaften keine beständigen Qualitäten der Dinge sind, sondern Übergangszustände in Abhängigkeit von der Temperatur. Das physiologische Denken wird von jenem Moment an durch Perspektiven und Probleme bedeutend bereichert, als entdeckt wird, dass sich die Rolle des Nervenzentrums, mit welcher es in die allgemeine Arbeit seiner Nachbarn eintritt, wesentlich verändern kann – von einer erregenden kann sie für dieselben Apparate [pribor] zu einer hemmenden Rolle werden –, in Abhängigkeit von dem Zustand, welchen das Zentrum im betreffenden Moment durchlebt. Erregung und Hemmung sind lediglich veränderliche Zustände der Zentren in Abhängigkeit von den Bedingungen der Reizung, von Häufigkeit und Stärke der ankommenden Impulse. Doch durch die verschiedenen Grade erregender und hemmender Einflüsse des Zentrums auf die Organe wird seine Rolle im Organismus bestimmt. Von daher die direkte Schlussfolgerung, dass die normale Rolle des Zentrums im Organismus kein unveränderlicher, statischer Zustand und seine einzige Eigenschaft ist, sondern einer der für es möglichen Zustände. In anderen Zuständen kann dasselbe Zentrum in der allgemeinen Ökonomie des Organismus eine wesentlich andere Bedeutung erwerben. Seinerzeit habe ich diesen Schluss in dem Buch „Über die Abhängigkeit kortikaler Bewegungseffekte von fremden zentralen Einflüssen“ gezogen. „Das kortikale Zentrum ist Träger einer bestimmten individualisierten Funktion nur insofern, als der entsprechende, von ihm innervierte segmentale Mechanismus individuell wirkt; und es wird zum Träger anderer Funktionen, wenn der von ihm innervierte segmentale Mechanismus als Teil eines umfangreicheren zentralen Mechanismus wirkt“ … „Die normale kortikale Tätigkeit verläuft nicht so, dass sie sich auf eine ein für allemal bestimmte und beständig funktionale Statik verschiedener Fokusse, als Träger gesonderter Funktionen stützen würde; sie stützt sich auf die unaufhörliche interzentrale Dynamik von Erregungen in den … Zentren, die durch die veränderlichen funktionalen Zustände aller dieser Apparate bestimmt wird“.2 Als faktische Bestätigung diente das damals beschriebene Bild, dass – in

Momenten erhöhter Erregung im zentralen Apparat des Schluckens oder der Ausscheidung beim Warmblüter – die Erregung der „psychomotorischen Zone“ des Kortex nicht die üblichen Reaktionen in der Muskulatur der Gliedmaßen ergibt, sondern eine Verstärkung des im gegebenen Moment agierenden Schluckens oder Ausscheidens. Die führende Erregung des Organismus im gegebenen Moment veränderte wesentlich die Rolle einiger Zentren und der von ihnen ausgehenden Impulse für den gegebenen Moment. Dass die Zuschreibung stets ein und derselben unveränderten Funktion zu einem topographisch bestimmten Nervenzentrum nur eine Annahme ist, die wegen der Einfachheit der Überlegung erfolgt, darauf hat schon W.H. Winch* verwiesen.3 II. Seit 1911 bin ich der Ansicht, dass die beschriebene veränderliche Rolle der Zentren im Organismus als solche keine Ausnahmeerscheinung, sondern ständige Regel ist. Theoretisch wahrscheinlich ist nur, dass es Zentren mit einer größeren und einer geringeren Vielfalt von Funktionen gibt. So sind die phylogenetisch älteren Rückenmarks- und segmentalen Zentren wahrscheinlich einförmiger und beständiger in ihren lokalen Funktionen, und die Zentren der höheren Etagen des zentralen Nervensystems [ZNS] lassen eine größere Vielfalt und eine geringere Beständigkeit der Funktionen zu. Im Anschluss an N.E. Vvedenskij habe ich versucht, im ZNS des Froschs etwas Analoges zu dem, was ich für die Warmblüter beschrieben habe, hervorzurufen. Während ich die führende Erregung des Organismus durch adäquate Reize des Schluckens und der Ausscheidung hervorrief, hatte sich N.E. ausgedacht, sie durch eine andauernde und zugleich sehr schwache elektrische Reizung irgendeines sensorischen Nervs am Rückenmark des Froschs hervorzurufen. Wie sich herausstellte, ergibt sich etwas Analoges zu dem, was beim Warmblüter beobachtet werden kann. Im Organismus wird ein lokaler Fokus erhöhter Erregbarkeit festgestellt, die lokalen reflektorischen Schwellen werden außerordentlich verringert, dafür entwickelt sich eine Hemmung der Reflexe an anderen Stellen des Organismus. Doch N.E. wollte dennoch der beschriebenen Erscheinung nicht die allgemeine und prinzipielle Bedeutung zuschreiben, die mir natürlich schien – er wollte in den beschriebenen interzentralen Beziehungen eher etwas Außergewöhnliches, beinahe Pathologisches erblicken, und im Zusammenhang damit gab er der Erscheinung die charakteristische Bezeichnung „Hysteriosis“.4 Ich meinerseits sah in den beschriebenen Beziehungen weiterhin eine wichtige Tatsache der normalen zentralen Tätigkeit und stellte mir vor, dass in der normalen Tätigkeit des ZNS seine laufenden veränderlichen Aufgaben in einer sich unaufhörlich verändernden Umwelt in ihm veränderliche „vorherrschende Erregungsherde“ hervorrufen, und diese Erregungsherde können, indem sie neu entstehende Wellen der Erregung auf sich lenken und andere zentrale Apparate hemmen, die Arbeit der Zentren wesentlich vielfältiger machen. Diese Vorstellung bringt neue Aufgaben für die Forschung, und man kann sie zumindest als Arbeitshypothese
akzeptieren. Den vorherrschenden Erregungsherd, welcher den Charakter der laufenden Reaktionen der Zentren im betreffenden Moment in bedeutendem Grade bestimmt, begann ich mit dem Terminus „Dominante“ zu bezeichnen.5 Dabei ging ich von der Überzeugung

[Im Originaltext lateinisch geschriebene Namen bzw. Ausdrücke werden hier und im Folgenden mit „“ gekennzeichnet.] 3 Winch, W.H.: Physiological und Psychological. Mind 19 (1910), 208. 4 Vvedenskij, N.E.: C.R. de l’Ac. de Sc. 155 (1912) 231. Folia Neurobiologica 6 (1912). 5 Ich verwende diesen Terminus im Sinne von Richard Avenarius; „in der Konkurrenz abhängiger Lebensgattungen muss eine davon für den betreffenden Moment als Dominante angesehen werden, in deren 3 aus, dass die Fähigkeit, eine Dominante zu bilden, keine ausschließliche Errungenschaft der Großhirnrinde ist, sondern eine allgemeine Eigenschaft der Zentren; so kann man vom Prinzip der Dominante als vom allgemeinen modus operandi des ZNS sprechen. Die Hysteriosis von
Vvedenskij ist meiner Ansicht nach ein Spezialfall einer Rückenmarks-Dominante.

III.
Unter einer Dominante wird bei meinen Mitarbeitern ein mehr oder weniger beständiger Herd
erhöhter Erregbarkeit der Zentren verstanden, ganz gleich, wodurch er hervorgerufen wird,
wobei neu in die Zentren gelangende Erregungen der Verstärkung (Bestätigung) der Erregung
im Herd dienen, während im übrigen ZNS Erscheinungen der Hemmung weit verbreitet sind.
Äußerer Ausdruck der Dominante ist die stationär aufrecht erhaltene Arbeit oder
Arbeitspose des Organismus.
Ein im höchsten Grade ausdrucksvolles und dauerhaftes Bild bietet die Dominante der
sexuellen Erregung bei einer Katze, die während der Läufigkeit von Katern isoliert ist. Die
verschiedenartigsten Reize, wie z.B. das Klappern der Teller beim Tischdecken, das Rufen
zum Futternapf u. ä., rufen jetzt nicht das übliche Miauen und lebhaftes Betteln um Futter
hervor, sondern lediglich eine Verstärkung des Symptomkomplexes der Läufigkeit. Die
Zuführung großer Dosen bromhaltiger Präparate, bis hin zu Dosen, die Erscheinungen von
Bromvergiftung hervorrufen, können diese sexuelle Dominante in den Zentren nicht
auslöschen. Wenn das Tier schon völlig ermattet auf der Seite liegt, rufen die verschiedensten
Reize weiterhin stets denselben Symptomkomplex der Läufigkeit hervor. Die Dominante, die
sich festgesetzt hat, ist in den Zentren offensichtlich sehr träge und stabil.
Selbst der Zustand starker Ermüdung kann sie nicht vernichten. Es entsteht der Eindruck,
dass in der erlöschenden Tätigkeit des ZNS, unter dem Einfluss von Ermüdung oder
Brompräparaten, die Dominante noch ausdrucksstärker werden kann als innerhalb der Norm;
und sie erlischt als letzte.
Es besteht keinerlei Notwendigkeit anzunehmen, dass das Prinzip der Dominante
ausschließlich mit den höchsten Ebenen des Großhirns und des Kortex verbunden ist. Wenn
in meinem Beispiel Schlucken und Ausscheidung im Zustand beständiger Erregung Wellen
von Erregung aus dem Kortex auf sich ablenkten, hat sich die Dominante selbst
wahrscheinlich schon in der Medulla oblongata und im Rückenmark gebildet.6 Die
Bedingungen der Herausbildung und die Rolle verschiedener Dominanten waren nun direkt
im Rückenmark zu untersuchen. M.I. Vinogradov unternahm die systematische Erforschung
der lokalen Strychninvergiftung des Rückenmarks beim Frosch als Mittel zur
Dominantenbildung für Rückenmarksreflexe. Die in der Literatur bereits vorhandenen
Angaben gestatteten die Annahme, dass auf diese Weise hinreichend ausdrucksstarke Bilder
von Dominanten gewonnen werden können, was sich in Vinogradovs Arbeit auch bestätigte.
Kann nun die Dominante innerhalb der Rückenmarks-Innervation einen bestimmten
funktionalen Sinn haben?
I.I. Kaplan versuchte, im Rückenmark des Froschs speziell eine sensorische bzw.
motorische Dominante zu erzeugen, indem sie den spezifischen Einfluss beider auf einen
Rückenmarksreflex untersuchte, und zwar auf den Abwischreflex* des Hinterbeins. Das
Rückenmark wurde in der Region des Lendebereichs lokal vergiftet, mal von hinten mit
Richtung dann das allgemeine Verhalten des Individuums bestimmt wird“. Kritik der reinen Erfahrung 2
(1890), 275.
6 Siehe Uchtomskij (Anm. 2), 184.


Strychnin, mal von vorn mit Phenol, mit der Annahme, dass dabei ein beständiger Herd
erhöhter Erregbarkeit entstehen wird, entsprechend jeweils in den sensorischen bzw.
motorischen Zellen des Rückenmarks. Gelänge es tatsächlich, gesondert funktional
verschiedene Dominanten in ein und demselben Segment des Rückenmarks hervorzurufen,
würde dies wesentlich verschiedene Veränderungen in ein und demselben (als Indikator
genommenen) Abwischreflex* nach sich ziehen. In der Tat stellte sich heraus, dass bei einer
(sensorischen) Strychnin-Dominante von Rückenmarksregionen, die das rechte Hinterbein
innervieren, der Abwischreflex des letzteren so koordiniert ist, als würde der Reiz der Hüfte,
dem Bauch und dem reagierenden Bein selbst zugefügt [? priloženo, wörtl. angelegt], obwohl
er in Wirklichkeit dem Vorderbein, dem Kopf, der gegenüberliegenden Seite u. ä. zugefügt
wurde. Hier äußerte sich die Dominante nicht nur in der Verringerung der
Erregbarkeitsschwelle in den vergifteten Zentren, sondern auch in einer charakteristischen
Veränderung der Richtung, in welcher der Reflex koordiniert wurde. Bei einer motorischen
(Phenol-)Dominante ist ein wesentlich anderes Bild zu beobachten: die Erhöhung der lokalen
Erregbarkeit äußert sich darin, dass bei Reizung verschiedenster Stellen die Initiative der
Erregung von den Muskeln des vergifteten Beins ausgeht, doch der Abwischreflex, wenn er
nicht durch für Phenol charakteristische Krämpfe gestört wird, auf den Ort der faktischen
Reizung gerichtet ist.
Die sensorische Rückenmarks-Dominante nähert sich ihrem funktionalen Sinn nach den
Erscheinungen von Vergiftungsschmerz in der Interpretation, die ihnen Head* gegeben hat7:
Wenn von zwei Empfindungswegen, die zentral untereinander verbunden sind, einer
erregbarer ist als der andere, dann wird bei Reizung des weniger erregbaren die Rezeption
dennoch auf den erregbareren projiziert.
Es ist interessant zu erwähnen, dass R.S. Kacnel’son und N.D. Vladimirskij erfolgreich
eine Dominante in den Ganglien der Bauchfüßler-Molluske Limnaea stagnalis* erzeugten.
Wurde kurz vor der Beobachtung eine der Ganglien der Bauch-Kette der Molluske wiederholt
mechanisch gereizt, bzw. isoliert mit Strychnin vergiftet, so wirkten die Reizungen der
anderen Ganglien der Kette jetzt so, als würde immer dasselbe erste, überreizte oder vergiftete
Ganglion gereizt.
Von besonderem Interesse sind dennoch die Dominanten, die von normalen (adäquaten)
Reizen hervorgerufen werden. Man sollte nicht annehmen, dass sie ausschließlich auf nervalreflektorischem
Wege entstehen können. Die lokalen Erregungsherde können auch durch
innere sekretorische Tätigkeit oder chemische Einflüsse vorbereitet werden. Ein einmal
ausgelöster Strom von nervaler und innersekretorischer Erregung bewegt sich mit großer
Trägheit weiter, und dann erhöhen neu ankommende Reize lediglich die Summe der Erregung
in diesem Strom, beschleunigen ihn. Zur gleichen Zeit ist die übrige zentrale Tätigkeit
unterdrückt. So werden bedingte Reflexe während der Läufigkeit gehemmt.8
IV.
Die Dominante ist ein Erregungsherd, der Erregungswellen von den verschiedensten Quellen
anzieht. Wie muss man sich diese Anziehung erregender Einflüsse von Seiten des lokalen
Herdes vorstellen?
7 Head, in: Brain 1 (1893), 1; 2 (1894), 339; 3 81896), 153.
8 Kryškovskij, in: Centralbl[att] f[ür] Physiol[ogie] 24 (1910), 471. Kreps. Vortrag im 31. physiolog.
Gespräch.


1886 hat N.E. Vvedenskij die bemerkenswerte Erscheinung der „tetanisierten Einzel-
Verkürzung“ beschrieben. 1888 wurde sie unter Leitung Vvedenskijs von F.E. Tur und L.I.
Karganov erneut untersucht. Einzelne Wellen von Wirkungsströmen, die den Bewegungsnerv
entlang verlaufen, von seinem zentralen Abschnitt aus – wo der Nerv durch einzelne
Induktionsschläge gereizt wird –, gelangen im peripheren Abschnitt desselben Nervs in den
Bereich einer sehr schwachen Tetanisierung und erzeugen hier gleichsam eine Befruchtung
der tetanischen Impulse, eine erhöhte Empfänglichkeit für die Tetanisierung; so dass im
Gefolge jeder dieser Wellen, die den Ort der schwachen Tetanisierung durchläuft, in diesem
verstärkte tetanische Impulse mit einer sehr vergrößerten Amplitude zu entstehen beginnen.
Die schwache, aber beständige Erregung am Ort der schwachen Tetanisierung des Nervs
erzeugt unerwartet verstärkte tetanische Effekte unter den Einfluss ergänzender einzelner
Wellen, die aus einer anderen Quelle kommen.9
Ähnliche Bekräftigungen von Erregungen in einem lokalen Herd – Wellen, die im
Nervensystem irradiieren –, müssen in den Zentren, Apparaten von bedeutender Trägheit,
eine ganz typische Erscheinung sein. N.E. Vvedenskij gab ihnen den Namen
„Korroboration“.10 Man muss annehmen, dass sich auf sie Erscheinungen in den Zentren
zurückführen lassen, die in der früheren Literatur als „Bahnung“11, „Summation“12,
„Reflexförderung“*13 u. a. erwähnt worden waren.
Von hier aus ist prinzipiell unschwer zu verstehen, dass die Wellen der Erregung, die
irgendwo entfernt vom in der Lenderegion befindlichen Zentrum der Ausscheidung entstehen
(z.B. in den Nerven der Hand), den entscheidenden Stimulus zur Ausscheidung geben
können, während sich der zentrale Apparat der letzteren in vorläufiger Erregung befindet. Auf
diese Weise werden die neu ankommenden Wellen der Erregung in den Zentren in der
Richtung des gegenwärtig vorherrschenden Erregungsherdes verlaufen.
Schwieriger zu verstehen ist das Entstehen sich ausbreitender Hemmungen in den Zentren
beim Auftreten eines lokalen Erregungsfokus. Äußerlich ergibt sich der Eindruck, dass im
Zusammenhang mit der Herausbildung der Dominante zu ihr gleichsam die gesamte
Erregungsenergie aus den übrigen Zentren hinfließt, und dann erweisen sich letztere als
gehemmt, weil sie nicht die Kraft haben zu reagieren. Man könnte Überlegungen zugunsten
einer solchen Vorstellung anführen, deren Ursprung auf Descartes zurückgeführt werden
kann.14 Doch damit zufrieden geben können wir uns bislang nicht, weil die Natur der
Hemmung während dieser Erregungsflüsse zum Erregungsherd ganz problematisch bleibt.
Während die wahre Natur der einander koordinierenden Hemmungen im ZNS – wovon die
reziproke Hemmung der Antagonisten ein Spezialfall ist – sich verbirgt, nähern wir uns dem
Verständnis der hemmenden Einflüsse der Dominante.
Die Natur der einander koordinierenden Hemmungen im Sinne einer „Parabiose“ zu
verstehen, ist schwierig. Damit ein Zentrum nach dem Typ der Parabiose gehemmt würde,
muss man eine von zwei Bedingungen annehmen: entweder 1) bei gleichbleibenden Energien
9 Vvedenskij, N.E.: O sootnošenijach meždu razdraženijem i vozbuždeniem pri tetanuse Über die Verhältnisse zwischen Reizung und Erregung bei Tetanus, Sankt-Peterburg 1898. Ders., nach dem
Versuch von Tur und Karkanov, in: L[isty?] Zased[anij] Fiziko-matem[atičeskogo] otd[elenija] Akad[emii]
nauk Sitzungsblätter der Physikalisch-mathematischen Abteilung der Akademie der Wissenschaft.
10 Vvedenskij, N.E.: Rabota fiziolog[ogičeskoj] labor[atorii] S-Peterb[urgskogo] Univers[iteta] 1 (1906), 57.
11 Exner, S., in: Pflüger’s Archiv 28 (1882), 487.
12 Bubnov, N., u. Heidenhain, R., in: Pflüger’s Archiv 26 (1881), 157.
13 Langendorff, O,., in: Nagel’s Handbuch der Physiologie 4 (1905), 272.
14 Mc Dougall, in: Brain 26 (1903), 153; Mind 15 (1906), 352.

der Reizung erhöht sich plötzlich die Labilität des Zentrums; oder 2) bei gleichbleibender
Labilität des Zentrums wächst plötzlich die Energie der Reizung (Häufigkeit und Stärke der
Impulse). Auf die plötzliche Verringerung der Labilität aller derjenigen Zentren zu verweisen,
die im betreffenden Moment gehemmt werden, bedeutet zur Erklärung eines Rätsels ein
anderes heranzuziehen: Wer ist dieser wohltätige Faktor, der so rechtzeitig die Labilität der
agierenden Zentren verändert, indem er eines zur Hemmung, die anderen zur Erregung
vorbereitet? Hingegen vorauszusetzen, dass auf die Gesamtheit der gegenwärtig gehemmten
Zentren verstärkte oder gehäufte Impulse entfallen, während für die positive Arbeit derselben
Zentren seltene und gemäßigte Impulse ausreichen, würde bedeuten anzunehmen, dass die
Arbeit des Nervenmechanismus auf eine unwahrscheinlich verschwenderische Verausgabung
von Energie berechnet ist.
Viele Daten zwingen dazu anzunehmen, dass in den Zentren neben einer parabiotischen
Hemmung auch eine andere Hemmung von ökonomischerer Natur existieren muss.
V.
Ganz außerordentliche Bedeutung muss die Dominante in den höheren Etagen des ZNS haben
– in den Kopfsegmenten. Schon 1888/89 haben Gotch* und Horsley* entdeckt, dass die
Erregungsenergie in den spinalen Bewegungsapparaten im allgemeinen desto größer ist, je
höher die Etagen des Nervensystems sind, von denen sie den Impuls erhalten. Das spinale
Zentrum wird vom Kortex der Hemisphären annähernd zwei Mal so stark erregt wie von den
Fasern der inneren Kapsel, und annähernd sieben Mal so stark vom Kortex wie vom spinalen
Reflexbogen.15 Mit den Kopfsegmenten des Körpers sind die Rezeptoren auf Distanz
verbunden, und es ist biologisch ganz natürlich, dass eben den Kopfganglien dieser Organe
zur vorbereitenden Rezeption auf Distanz bei der Innervation der übrigen Nervenetagen die
vorherrschende und führende Rolle gehören soll. Würden im Tier Reflexe vom spinalen Typ
überwiegen, d.h. Reaktionen auf die nächstliegenden, taktilen Kontaktreize, würden sofort die
Chancen stark zunehmen, an schädlichen Einflüssen der Umwelt zu sterben. Ein Charakterzug
der Reaktionen auf die Sinnesorgane der Kopfetagen besteht darin, dass sie Reaktionen auf
unmittelbare Kontaktrezeptoren vorher mitteilen und ein Vorgreifen der letzteren sind: es sind
Reaktionen „der Probe“ (attempt), nach einem Ausdruck von Sherrington. „Als
reflektorische werden die Distanzrezeptoren durch die Neigung charakterisiert, die
Muskulatur des Tieres insgesamt, als einheitliche Maschine, zu erregen und zu kontrollieren –
indem sie die Fortbewegung erregen oder beenden, in der einen oder anderen ganzen
Situation des Körpers, in einer bestimmten Pose, die eine beständige Situation nicht einzelner
Gliedmaßen oder einzelner Organkomplexe darstellt, sondern der ganzen Muskulatur
insgesamt“.16
Wenn sich die Bauchfüßler-Molluske Planorbis corneus* auf dem Boden des Aquariums
entlang bewegt, indem sie die Ohrmuschel hochhebt und die gespannten Fühler nach vorn
ausstellt, unterscheiden sich die Reflexe zur Berührung der seitlichen Oberfläche ihres
Körpers von denen, die sich bei einem Zustand ergeben, wenn die Molluske stehen geblieben
ist und die Fühler an den Körper gelegt sind, oder bei einem Zustand, wenn dieselben Fühler
auf dem unbeweglichen Tier indifferent erschlafft sind. Bei einer Molluske, die sich in aktiver
Fortbewegung befindet, verstärkt das Zufügen leichter taktiler Reize am Fuß nur die
Fortbewegung und die Spannung der Fühler. Und während die Kontaktreizung des Fußes
15 Gotch u. Horsley, in: Proceedings Royal Society (1888/89); Nature (1889), 500.
16 Sherrington, S.C.: The Integrative Action of the Nervous System. London (1911), 325
.

lediglich eine Verstärkung der Spannung der Fühler hervorruft, gibt es keine lokalen Reflexe
im Fuß (lokale Eingrezung) – die Fortbewegung wird fortgesetzt, nur mit verstärkter
Spannung der Pose „Aufmerksamkeit nach vorn“.
Je höher der Rang des Tieres ist, desto vielfältiger, üppiger und zugleich weitsichtiger ist
der Apparat der vorgreifenden Rezeption: die höchsten peripheren Sinnesorgane und die über
ihnen anschwellenden Kopfganglien. Man muss in dieser Hinsicht die Tiefe der Umwelt
vergleichen, in welcher Planorbis corneus* mit seinen Tentakeln und kurzsichtigen „Augen“
seine Kontaktrezeptoren erfolgreich Vorfreude haben und vorwarnen kann, der Adler – mit
seinem hervorragenden Sehapparat, und schließlich ein Admiral in der Helgoländer Schlacht,
der mit dem drahtlosen Telegraphen die unsichtbaren Bataillone gegen den unsichtbaren
Feind lenken kann.
Der Kopfapparat des höchsten Tieres kann im allgemeinen charakterisiert werden als
Organ mit einer Vielzahl von Variablen, außerordentlich langen Fühlern, von denen mal der
eine, mal der andere zur Vorfreude an den Ereignissen nach vorn herausgestellt wird; und die
„Erfahrung“ des Tieres in der äußeren Umwelt verändert sich in Abhängigkeit davon, welche
Fühler es benutzt, d.h. wie differenziert und wie weit es seine Umwelt im betreffenden
Moment vorgenießt und projiziert. Dieser erstaunliche Apparat, der eine Vielzahl von
veränderlichen, kaleidoskopartig wechselnden Organen der vorgreifenden Wahrnehmung,
der Vorfreude und Projektion der Umwelt darstellt, ist eben das Gehirn. Der Prozess des
Wechsels der agierenden Organe wird indes erreicht mittels Dominantenbildung und
Hemmung des übrigen Gehirnfeldes.
VI.
In den höchsten Etagen und im Kortex der Hemisphären ist das Prinzip der Dominante die
physiologische Basis des Aktes der Aufmerksamkeit und des gegenständlichen Denkens. Dass
der Akt der Aufmerksamkeit einen ständigen Erregungsherd bei Hemmung anderer Zentren in
sich bergen muss, dieser Gedanke wurde schon von Ferrier17 ausgesprochen und danach von Wundt18, McDougall19 und Ebbinghaus20 entwickelt. In der Literatur gibt es Hinweise,
dass verschiedenartige schwache Reizungen beim Aufmerksamkeitsprozess dessen
Konzentration fördern.21 Zoneff* und Meumann* haben herausgefunden, dass sich die
Konzentration der Aufmerksamkeit bei Erregung des Atem- und des Gefäßzentrums
verstärkt.22 Dies kann man so verstehen, dass Irradiationen vom der Medulla oblongata die
Dominante im Kortex bekräftigen können. Über die Natur des Aufmerksamkeitsaktes werde
ich mich hier nicht weiter ausbreiten; vor allem, weil ich schon an anderer Stelle darüber
geschrieben habe.23
17 Ferrier: The Functions of Brain. London (1876), 283.
18 Wundt, W. in: Grundzüge der physiologischen Psychologie 1 (1902), 323.
19 McDougall, in: Mind 2 (1902), 316; 12 (1903), 289; 19 (1908), 349.
20 Ebbinghaus: Osnovy psichologii. Sankt-Peterburg (1912), 182. Zur Darlegung und Kritik physiologischer
Theorien der Aufmerksamkeit siehe E. Dürr: Die Lehre von der Aufmerksamkeit. Leizig (1907); Paul
Nayrac: Physiologie et psychologie de l’attention. Paris (19142).
21 Slantcher, I.M., in: Journal of Psychology 2 (1901), 313; Taylor, ibid., vol. XII, 335.
22 Zoneff und Meumann, in: Philosophische Studien 18 (1901), 51.
23 Op.cit., 166-175.

Darüber, dass schwache fremde Reize der Konzentration der Aufmerksamkeit in
verborgenen Interessen helfen und zur Ermittlung und Bekräftigung der dominante beitragen, spricht sehr
bestimmt Kant: „Wandelbare, in Bewegung gesetzte Gestalten, die für sich eigentlich keine Bedeutung
haben, welche Aufmerksamkeit erregen könnte, – dergleichen das Flackern eines Kaminfeuers, oder die
mancherlei Drehungen und Blasenbewegungen eines über Steine rieselnden Bachs sind, unterhalten die


Die Rolle der Dominante im gegenständlichen Denken möchte ich an einem konkreten
Beispiel darstellen, das hinreichend bestimmt drei Phasen in der Entwicklung der
gegenständlichen Erfahrung charakterisiert. Ich möchte nicht, dass man mich der Lästerung
zeiht, wenn ich mich einer schönen menschlichen Figur in einem schönen Moment ihres
Lebens von der rein physiologischen Seite nähere.
Erste Phase: Eine hinreichend beständige Dominante, die sich im Organismus unter dem
Einfluss der inneren Sekretion, reflektorischer Einflüsse u. a. gebildet hat, lenkt, als Anlässe
zur Erregung, die verschiedensten Rezeptionen auf sich. Dies ist Natascha Rostowa, auf ihrem
ersten Ball in Petersburg: „… hatte er seine Freude an dem frohen Glanz ihrer Augen und ihres
Lächelns, der nicht durch die Gegenstände ihrer Unterhaltung, sondern durch das innere
Glücksgefühl hervorgerufen wurde, das sie erfüllte. … Sie sehen ja selbst, daß ich schon
wieder aufgefordert werde, und ich freue mich so darüber, und ich bin so glücklich, und ich
habe alle Menschen so lieb, und Sie können mir ja das alles nachfühlen, sagte dieses Lächeln
und noch vieles, vieles andere“.24 Das Stadium der Bekräftigung einer vorhandenen
Dominante, vorzugsweise.
Zweite Phase: Aus der Menge wirkender Rezeptionen wählt die Dominante eine Gruppe
von Rezeptionen aus, die für sie besonders biologisch interessant ist. Dies ist das Stadium der
Erarbeitung eines adäquaten Reizes für die betreffende Dominante und zugleich das Stadium
des gegenständlichen Heraushebens des betreffenden Komplexes von Reizen aus der Umwelt.
„Sie war schweigsam und nicht mehr so schön wie damals auf dem Ball, ja sie hätte sogar
geradezu häßlich ausgesehen, wenn ihr Gesicht nicht eine solche Sanftheit und eine solche
Gelassenheit gegen alle Eindrücke der Außenwelt widergespiegelt hätte.“ Das ist Natascha
bei den Bergs, nach der Rückkehr nach Moskau. Doch nun: „Vor ihr stand Fürst Andrej mit
dem Ausdruck zarter Höflichkeit und sagte irgend etwas. Sie hatte den Kopf ein wenig
zurückgelegt und sah ihn an, über und über rot und sichtlich bemüht, ihren erregten Atem zu
ruhigem Gang zu zwingen. Von neuem strahlte aus ihrem Gesicht der helle Widerschein eines
inneren Feuers, das fast erloschen gewesen war. Sie war völlig verwandelt: sie war jetzt nicht
mehr häßlich, sie war wieder dieselbe, die sie auf dem Balle gewesen war.“25
Früher war Natascha erregt, schön und glücklich für alle, von innen heraus, extensiv. Jetzt
ist sie gut, sowohl erregt als auch glücklich nur für Fürst Andrej allein: die Dominante hat
ihren adäquaten Reiz gefunden.
Dritte Phase: Zwischen der Dominante (dem inneren Zustand) und dem betreffenden
rezeptiven Inhalt (Reiz-Komplex) wird eine solide („adäquate“) Verbindung hergestellt, so
dass jeder der Kontrahenten (innerer Zustand und äußeres Bild) ausschließlich einander
hervorrufen und bekräftigen, während das übrige Seelenleben zu neuen laufenden Aufgaben
und Neubildungen übergeht. Der Name des Fürsten Andrej ruft bei Natascha jene, als einzige
Einbildungskraft mit einer Menge von Vorstellungen … sich im Nachdenken zu vertiefen. Selbst Musik, für
den der sie nicht als Kenner anhört, kann einen Dichter oder Philosophen in einen Stimmung setzen, darin ein
jeder nach seinen Geschäften oder seiner Liebhaberei Gedanken haschen und derselben auch mächtig werden
kann, die er, wenn er in seinem Zimmer einsam sich hingesetzt hätte, nicht so glücklich würde eingefangen
haben. … Der Engl. Zuschauer erzählt von einem Advokaten: daß er gewohnt war, beim Plaidieren einen
Bindfaden aus der Tasche zu nehmen, den er unaufhörlich um den Finger auf- und abwickelte; da denn, als
der Schalk, sein Gegenadvokat, ihn heimlich aus der Tasche praktizierte, jener ganz in Verlegenheit kam und
lauter Unsinn redete, weswegen man sagte: ,er habe den Faden seiner Rede verloren‘.“ (Immanuel Kant:
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 27. In: Ders., Werkausgabe, hrsg. v. W. Weischedel, Bd. XII.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch-Verlag 19918 (stw 193), 474f.
24 Leo Tolstoi: Krieg und Frieden. Übers. von Werner Bergengruen. Erster Band. Berlin: Rütten & Loening
(19636), 668f.
25 Ebenda, 681.


unter den übrigen, Dominante hervor, die damals den Fürsten Andrej für Natascha geschaffen
hatte. So ruft ein bestimmter Zustand des ZNS für den Menschen ein individuelles Abbild
hervor, und dieses Abbild ruft danach den früheren Zustand des ZNS hervor.
Die Umwelt hat sich gänzlich auf „Gegenstände“ aufgeteilt, von denen jeder auf eine
bestimmte, einmal durchlebte Dominante im Organismus, auf ein bestimmtes biologisches
Interesse der Vergangenheit antwortet. Ich erkenne äußere Gegenstände aufs Neue, insofern
ich in mir die früheren Dominanten reproduziere, insofern ich die entsprechenden
Gegenstände der Umwelt erkenne.
Zum gegenständlichen Denken hat sich von der physiologischen Seite I.M. Sečenov
geäußert.26 Ihm kommt jetzt die Schule von I.P. Pavlov nach der Methode der bedingten
Reflexe nahe. Diesmal werde ich bewusst nicht die Frage berühren, wie sich das hier
Dargelegte zu den vortrefflichen Seiten von Sečenov verhält, oder welchen Platz das Prinzip
der Dominante in den Termini der Lehre von den bedingten Reflexen einnimmt.27
Im höheren psychischen Leben kann die Trägheit der herrschenden Erregung, d.h. die
Dominante des durchlebten Moments, als Quelle von „Vorurteilen“, „fixen Ideen“,
„Halluzinationen“ dienen; doch eben sie gibt dem Wissenschaftler jenes Schwungrad, die
„Leitidee“, „grundlegende Hypothese“ an die Hand, die das Denken von Anstößen und
Buntheit befreien und zur Verkettung der Tatsachen zur einheitlichen Erfahrung beitragen.
VII.
Solange die Dominante in der Seele klar und lebendig ist, hält sie das gesamte Feld des
seelischen Lebens in ihrer Gewalt. Alles erinnert an sie und an die mit ihr verbundenen
Abbilder und Realitäten. Eben ist der Mensch erwacht; ein Sonnenstrahl, das Zwitschern
hinter dem Fenster erinnern schon daran, was die Seele beherrscht, und reproduziert die
Lieblingsidee, die Aufgabe, das Gesicht oder das Bestreben, die den vorherrschenden
Lebensstrom einnehmen. „Ich schlafe, aber mein Herz ist wachsam“. Die Dominante wird
durch ihre Trägheit charakterisiert, d.h. durch die Neigung, sich zu bekräftigen und zu
wiederholen, nach Möglichkeit in ihrer Ganzheit, auch wenn sich die äußere Umwelt
verändert hat und die früheren Anlässe und Reaktionen vergangen sind. In der Seele kann


26 Sečenov, I.M.: Predmetnaja mysl’ i dejstvitel’nost’ [Gegenständliches Denken und Wirklichkeit]. In:
Sobranie sočinenij, t. II. Moskva (1908), 241; Ders.: O predmetnom myšlenii s fiziologičeskoj točke zrenija.
Reč’ na X S-ezde russkich est. i vračej 4 janv. 1894 [Über gegenständliches Denken vom physiologischen
Standpunkt. Rede auf dem 10. Kongress der russ. Naturforscher und Ärzte am 4. Januar 1894]. Ibid., 261.
27 Für die Herausbildung des bedingten Reflexes, d.h. für die Erklärung, wie ein früherer zentraler Akt aus
neuen und nichtadäquaten reflektorischen Anlässen hervorgerufen werden kann, hat I.P. Pavlov schon in
seiner Madrider Rede von 1903 angenommen, dass das entsprechende Zentrum „im ZNS gleichsam ein
Anziehungspunkt für Reize ist, die von anderen gereizten Oberflächen ausgehen“. (Dvadcatiletnij opyt obektivnogo
izučenija vysšej nervnoj dejatel’nosti životnych [Zwanzigjährige Erfahrungen objektiver
Untersuchung der höheren Nerventätigkeit der Tiere]. Moskva i Petrograd 1923, 20) Gleichfalls in der
Stockholmer Rede von 1904: „… der Punkt des ZNS, der während des unbedingten Reflexes stark gereizt
wird, zieht schwächere Reize auf sich, die aus der Außen- oder Innenwelt gleichzeitig auf andere Punkte
dieses Systems fallen“ (ibid., 40). Und weiter, in der Moskauer Rede von 1909: „… wenn ein neuer, früher
indifferenter Reiz, der in die großen Hemisphären gelangt ist, in diesem Moment im Nervensystem einen
Herd starker Erregung findet, so beginnt er sich zu konzentrieren, sich gleichsam den Weg zu diesem Herd
zu bahnen und von ihm weiter in das entsprechende Organ, indem er dergestalt zum Reiz dieses Organs
wird“ (ibid., 72).
In letzter Zeit, in der neuen Ausgabe seiner „Reflexologie“ spricht V.M. Bechterev gleichfalls davon, dass
„ein stärker erregbarer Bereich zugleich auch über eine größere Anziehungskraft für Nervenenergie verfügt,
indem er andere, mit ihm zusammenhängende Bereiche hemmt … es geht darum, dass an ein stärker erregter
kortikaler Bereich Erregung aus anderen kortikalen Bereichen auf sich zieht“. (Obščie osnovy refleksologii
čeloveka [Allg. Grundlagen der Reflexologie des Menschen], Moskva i Petrograd 19232, 161)


gleichzeitig eine Menge potentieller Dominanten leben – Spuren der früheren Lebenstätigkeit.
Sie gelangen nacheinander in das Feld der seelischen Arbeit und klaren Aufmerksamkeit,
leben hier einige Zeit, ziehen ihre Schlussfolgerungen, und danach vergraben sie sich wieder
in der Tiefe, überlassen das Feld dem Kleinkram. Aber auch beim Abtauchen aus dem Feld
der klaren Arbeit des Bewusstseins sterben sie nicht ab, hören nicht auf zu existieren. Die
wissenschaftliche Suche und aufkeimende Gedanken fahren auch dort fort, sich zu bereichern,
sich umzugestalten und zu wachsen, so dass sie, wenn sie danach ins Bewusstsein
zurückgekehrt sind, sich als inhaltsreicher, gereifter und besser begründet darstellen. Einige
komplizierte wissenschaftliche Probleme können im Unterbewusstsein nebeneinander und
gleichzeitig heranreifen, sie geraten nur selten ins Feld der Aufmerksamkeit, um von Zeit zu
Zeit ein Fazit zu ziehen.
Diese höheren kortikalen Dominanten, die teils klar im Feld des Bewusstseins leben, teils
in verdecktem Zustand verborgen sind, aber auch aus dem Unterbewusstsein weiterhin das
Leben beherrschen, fallen offensichtlich dem Sinn nach mit den „psychischen Komplexen“
zusammen, von denen bei Freud* und seiner Schule die Rede ist.28 „Die Komplexe sind
verklemmt“, d.h. einfach – die gehemmten psychophysiologischen Inhalte erlebter
Dominanten können pathogen wirken, wenn sie seinerzeit nicht ausreichend in die übrige
psychische Masse eingeflochten und dort koordiniert worden sind. Dann wird das
nachfolgende psychische Leben zum Kampf einander bedrängender, nicht abgestimmter
Dominanten, die sich „als fremde Körper“ gegenüber stehen.
Je besser die nacheinander erlebten Inhalte der Aufmerksamkeit miteinander abgestimmt
sind, je weniger das Gewebe des früheren Lebens unterbrochen ist, desto glatter verlaufen die
nachfolgenden Übergänge des Seelenlebens von einer Dominante zur anderen. „Es ist doch
ein Genuss, ein so ruhiges Denken zu hören wie das seinige ist“, sagte Ludwig* über
Helmholtz*.29
Muss man sich die Dominante vorstellen wie einen topographisch einheitlichen
Erregungspunkt im ZNS? Nach allen Angaben ist eine Dominante in voller Entfaltung ein
Komplex gleichzeitiger Symptome im gesamten Organismus – sowohl in den Muskeln wie in
der sekretorischen Arbeit und in der Tätigkeit der Gefäße. Deshalb muss man sie sich eher
vorstellen als eine bestimmte Konstellation von Zentren mit erhöhter Erregbarkeit in
verschiedenartigen Etagen des Gehirns und des Rückenmarks wie auch im autonomen
System.
Wenn der Kortex eine zuvor erlebte Dominante erneuert, geht es um die mehr oder
weniger ausführliche Widerherstellung des gesamten Komplexes von zentralen, Muskel-,
Ausscheidungs- und Gefäß-Erscheinungen im Organismus. Wenn dies nötig ist, kann der
Kortex die frühere Konstellation derart vollständig wiederherstellen, dass der konkrete Inhalt
der damaligen Erfahrung erneut erlebt wird, vielleicht bis zur Halluzination. Üblicher ist die
nur teilweise, ökonomische Wiederherstellung zuvor erlebter Dominanten in Gestalt von
Symbolen. Im Zusammenhang damit wird auch der Komplex derjenigen Organe, die am
Erleben der wiederhergestellten Dominante teilnehmen, verkürzt – womöglich beschränkt er
sich allein auf die kortikale Ebene.
28 Suchanov: Patopsicholoija [Pathopsychologie]. Novye idei v psichologii [Neue Ideen in der Psychologie],
Nr. 10, Sankt-Peterburg (1913), 37 u. passim.
29 Sečenov, I.M.: Avtobiografičeskie zapiski [Autobiographische Notizen]. Moskva (1907), 101. [Zitat
deutsch!]


Eine rein kortikale Dominante ist wahrscheinlich das späteste Produkt einer ökonomischen
Ausarbeitung. Der Kortex ist das Organ der Erneuerung und des kurzen Erlebens früherer
Dominanten mit der geringsten Trägheit und mit dem Ziel ihrer ökonomischen Verflechtung.
Von unserem Standpunkt aus sind jeglicher „Begriff“ und jegliche „Vorstellung“, jeder
individualisierte psychische Inhalt, über den wir verfügen und den wir in uns hervorrufen
können, Spur einer einstmals erlebten Dominante. Die Spur der einstmals erlebten
Dominante, und manchmal auch die ganze erlebte Dominante, können erneut ins Feld der
Aufmerksamkeit zurückgerufen werden, sobald wenigstens teilweise der Reiz erneuert wird,
der für sie adäquat geworden war. Das alte und gebrechliche Schlachtross ist ganz verwandelt
und stürmt beim Klang der Signaltrompete wie früher im Glied dahin.